Im Porträt
Gesichter unserer Gemeinde
Benjamin Kiersch
Lieber Benjamin, beim Konfirmations-Gottesdienst unserer Gemeinde hast du in der Band Flöte gespielt. Wie kam es dazu?
Meine Tochter Isabel wurde im August konfirmiert, und ich wollte gerne ein wenig Musik zur Konfirmation beitragen. Gemeinsam mit meinem Freund Mauricio Nader am E-Bass haben wir eine Interpretation von „La Partida“ des chilenischen Komponisten Victor Jara gespielt. La Partida – Der Aufbruch – das passte so schön zu der Konfirmation, die ja eine Initiation für die jungen Menschen ist, ein Meilenstein auf dem Weg ins Erwachsenenleben.
Es traf sich gut, dass Christoph Ostendorf, Torsten Puls und Dorle Hoffmann aus der Kreuzberg-Mitte auch geplant hatten, zur Konfirmation einige Lieder mit einer Band zu begleiten, da konnten Mauricio und ich gleich einsteigen: ein schönes Symbol für die Zusammenarbeit unserer fusionierten Gemeinden!
ch spiele Blockflöte und singe in Chören, seit ich fünf Jahre alt bin, irgendwann kamen noch Gitarre und Kontrabass dazu. Die Musik begleitet mich mein ganzes Leben. Es ist ganz kostbar für mich, zu musizieren und Musik zu hören. Mit der Musik kann ich Gefühle kommunizieren, die ich nicht so in Worte fassen kann. Musik regt die Phantasie an, sie lässt Bilder im Kopf entstehen, erzeugt unmittelbare Reaktionen, ohne einen Umweg über komplizierte Gedanken. Musik schafft eine wunderbare direkte Verbindung zwischen uns Menschen.
Für mich ist Musik auch Einkehr und Gebet. Der Jazzmusiker Kenny Werner hat das mal schön beschrieben, indem er in etwa gesagt hat: Wenn du Musik machst, versuche nicht zu spielen, sondern lass es aus dir spielen. Dann wirst du der Klang. Ich habe das ein paarmal erlebt – das ist eine tröstende, aufbauende Erfahrung, eine Ahnung von etwas Göttlichem.
Was verbindet dich mit Lateinamerika?
Eine ganze Menge. Während meines Umwelttechnik-Studiums konnte ich ein Praktikum bei einer Firma in Mexiko machen und bin danach im Land umhergereist. Das hat mich so fasziniert, dass ich immer wieder dorthin zurückgekehrt bin. Insgesamt habe ich 12 Jahre in Lateinamerika verbracht – einen Großteil mit meiner Familie in Chile und Bolivien. Meine Frau hat dort viele Jahre bei der „Fundación Cristo Vive“ gearbeitet, eine Stiftung, die soziale Dienste wie Kindergärten, Berufsschulen und Gesundheitsversorgung in ärmeren Stadtteilen in Santiago de Chile und Cochabamba in Bolivien betreibt. Ich habe in Santiago bei der Welternährungsorganisation (FAO) im Bereich Wasser- und Bodenmanagement gearbeitet, zum Beispiel in Projekten zur Bewässerung oder Landnutzungsplanung.
Die Zeit in Lateinamerika war unvergesslich. Wir haben viele Freundschaften geschlossen und unsere drei Kinder sind dort zur Welt gekommen. In Bolivien und Chile habe ich erfahren, wie gut es sich anfühlt, wenn fremde Menschen dich mit offenen Armen herzlich empfangen, und dass man sich auf der anderen Seite der Welt zu Hause fühlen kann. Und ich habe den Wohlstand schätzen gelernt, in dem wir hier in Deutschland leben. Kostenlose Schulbildung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung – das sind Dinge, von denen viele Menschen in Lateinamerika nur träumen können. In Santiago waren wir Teil der deutsch-chilenischen Kirchengemeinde, und ich war ein paar Jahre im Gemeindevorstand. Das war eine interessante Zeit, es ist eine kleine Gemeinde, bunt gemischt aus Chilen*innen und Deutschen.
Es war gut, 2015 nach langen Jahren in Lateinamerika wieder nach Kreuzberg zurückzukommen. Ich fühle mich wohl bei uns im Kiez zwischen Landwehrkanal und Görlitzer Park, und freue mich an der Vielfalt hier im Kiez. Wenn ich durch die Straßen laufe, denke ich oft „jetzt arbeitest du nicht nur bei den Vereinten Nationen, sondern lebst auch mittendrin“. Ich habe gemerkt, dass die Rückanpassung in die eigene Kultur viel Zeit benötigt. Für die Arbeit bin ich noch immer viel unterwegs, wenn auch im Moment nur virtuell: im letzten Jahr in Ruanda, Senegal, Sri Lanka, Ägypten und Indonesien.
Wie geht es dir in der Pandemie?
Anfang 2020 beklagte ich mich, dass das Jahr schon so mit Reisen verplant und das ganze Jahr keine ruhige Zeit in Sicht sei. Sechs Wochen später waren alle Reisen gestrichen, die Wochenenden waren frei, und die Herausforderungen waren auf einmal andere: das Home-Office mit dem Home-Schooling der Kinder, dem Home-Cooking, zu koordinieren. Ich fand es erstaunlich, wie schnell die gewohnten Abläufe sich änderten und wieviel Unsicherheit das bei mir verursacht hat – obwohl ich durch meine vielen Umzüge im Leben viel an Veränderung gewöhnt bin. Ich bin sehr dankbar, eine Familie zu haben, so dass auch im tiefsten Lockdown immer Leben zu Hause war. Und ich ahne, wie dramatisch es für alle Menschen sein muss, die vor Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen fliehen, und ein neues Leben beginnen müssen. Es erstaunt mich, bei wie vielen Menschen angesichts der Pandemie eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem System zu Tage tritt.
Was verbindet dich mit unserer Gemeinde in Kreuzberg?
Meine Kinder haben die St.-Thomas Kita am Mariannenplatz besucht, meine Tochter Isabel wurde in der St.-Jacobi-Kirche konfirmiert, und zu Hause fühle ich mich in der Emmaus-Ölberg-Gemeinde. Ich singe seit fünf Jahren im Ölberg-Chor, der ist für mich fast eine zweite Familie. Ingo Schulz hat ein wunderbares Talent, viele gute Chorsänger*innen aller Altersstufen zu motivieren und spannende Konzertprogramme zu erarbeiten, die immer eine schöne Botschaft haben. Bei den Konzerten spürt man regelmäßig diese wunderschöne Kraft, die die Herzen der Sänger*innen als auch der Zuhörenden bewegt.
Meine Frau engagiert sich seit vielen Jahren im Weltladen im Turm der Emmauskirche – das finde ich toll, wenn Kirche auf diese Weise die Solidarität mit Menschen in anderen Ländern erlebbar macht und Brücken baut, wie zu Sofofa, einer Organisation, die in Benin Schulen baut.
Ich freue mich, dass wir trotz sinkender Mitgliederzahlen eine lebendige Gemeinde sind, dass junge Familien wie ältere Menschen den Gottesdienst besuchen, und dass es offene Räume in der Kirche gibt, wie das Café, das zum Frühstücken geöffnet ist und wo alle willkommen sind.
Welche Erwartungen hast du an die Fusion unserer Gemeinden? Wie stellst du dir das evangelische Leben in Kreuzberg in 20 Jahren vor?
Ich wünsche mir eine Gemeinde der offenen Türen, die nicht nur durch die großen Gebäude mitten auf dem Lausitzer Platz, dem Mariannenplatz oder an der Oranienstraße, sondern auch durch ihre Aktivitäten ein Zentrum im Kiez darstellt.
Wir leben in einem Kiez mit einer unglaublichen kulturellen und religiösen Vielfalt, ich glaube, da gibt es Potenzial zur Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, die sich für religiöse, soziale oder kulturelle Ziele einsetzen. Ich glaube, die neue Gemeinde kann nur als aktiver Teil in solchen Netzwerken existieren.
Ich finde es toll, dass die Gemeinde kulturelle Angebote fördert, beispielsweise die Kirchenräume für Konzerte, Ausstellungen etc. öffnet. In Emmaus kann man nicht nur in den Gottesdienst gehen, sondern auch-wundervolle Konzerte auf dem X-Jazz Festival. In der Ölbergkirche finden neben Gottesdiensten auch wunderbare Kammermusikaufnahmen statt. In der Thomaskirche gibt es Techno-Gottesdienste in Zusammenarbeit mit dem Tresor. Solche Kooperationen auszubauen, ist wichtig, um die Infrastruktur zu finanzieren, aber auch, um die Kirchen weiterhin mit Leben zu füllen.
Vielleicht ergibt sich auch eine Zusammenarbeit mit den Moscheen rund um das Kottbusser Tor? Vor ein paar Jahren haben wir mal mit dem Ölberg-Chor das „Kyrie“ aus dem African Sanctus von Fernshaw gesungen, während eine Muezzina das „Alluah Akhbar“ intoniert hat. Das harmoniert ausgesprochen gut!
Ich wünsche mir eine Gemeinde, die Solidarität mit Benachteiligten in der Gesellschaft lebt, sowohl im Kiez durch Angebote für Obdachlose, Geflüchtete, Drogendealer*innen, als auch global über Projekte wie den Weltladen und andere Veranstaltungen.
Und schließlich wünsche ich mir eine Gemeinde, die aktive Kinder- und Jugendarbeit macht, Dann gibt es auch in 20 Jahren bestimmt noch ein aktives evangelisches Leben in Kreuzberg.
Lieber Benjamin, ich danke dir für das Gespräch.
Mit Benjamin Kiersch sprach Pfarrer Christoph Heil.