Im Porträt

Ursula Gerlach

Frau Gerlach, Sie haben 36 Jahre in Leipzig gelebt und gearbeitet. Was bewog Sie, im Jahr 2007 - ziemlich plötzlich - nach Berlin zu ziehen?

Ja, das ist eine Geschichte, die mich selbst - sogar heute noch - verwundert. Ich hatte Ende 2005 alle meine Arbeitsverhältnisse aufgegeben bzw. verloren und hatte nun Zeit, mich um die Geschichte meiner Vorfahren zu kümmern. Ich erkundete, dass meine Urgroßeltern seit den 1870er Jahren in Berlin lebten, zuerst in der Skalitzer Str. 70a und von 1878 bis 1885 am Kottbusser Ufer 65, heute Fraenkelufer 50, also fast gegenüber unserer Melanchthonkirche. Mein Urgroßvater wird in den alten Berliner Adressbüchern als Mehl- und Vorkosthändler geführt und betrieb ein Lebensmittelgeschäft. Um noch mehr zu erfahren, meldete ich mich im Evangelischen Zentralarchiv am Bethaniendamm an, Termin 13.09.2007. Da mich noch vieles andere in Berlin interessierte, machte ich mich auf den Weg und logierte mich für acht Tage bei meiner Nichte in Hellersdorf ein. Zuerst erkundete ich Kreuzberg, des Weiteren besuchte ich eine Impressionisten-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, beteiligte mich an einer Führung im Schloss Charlottenburg, erfreute mich am alten Dorfkern Britz mit Kirche, Schloss, Park und Gutshof, fuhr zum Waldfriedhof Heerstraße, um am Grab des Joachim Ringelnatz eine Rose niederzulegen, war in der Gemäldegalerie am Kulturforum und, da ich mich für Architektur interessiere, im Bauhaus Archiv in der Klingelhöfer Straße. An dem aufregenden Tag im Zentralarchiv erfuhr ich, dass meine Großmutter und ihre beiden älteren Schwestern in den Jahren 1878, 1881 und 1885 in der Notkirche St. Simeon getauft wurden. Am darauffolgenden Sonntag besuchte ich deshalb den Gottesdienst in der St. Simeon-Kirche. Dort überreichte mir ein Herr am Eingang den Boten, der damals schon für die 3 Kirchen unserer heutigen Kirchengemeinde galt. Darin wurden freie Wohnungen im Seniorenhaus Graefestr. 36 angeboten, die mich – eigentlich – gar nicht interessierten, denn ich hatte nicht vor umzuziehen. Zurück in Leipzig, blätterte ich nochmals in dem Boten, stieß erneut auf das Wohnungsangebot, rief im Kirchlichen Verwaltungsamt an, besichtigte am 04.10. die freien Wohnungen und zog am 30.11.2007 nach Berlin. Ehemalige Arbeitskollegen und meine Leipziger Wanderfreunde hatten mich vor dem Umzug aus nachvollziehbaren Gründen gewarnt und jagten mir nicht unerhebliche Ängste ein. Doch ich fühlte mich vom ersten Augenblick an in der neuen Wohnung, im Haus, in der Gemeinde, in Kreuzberg und überhaupt in Berlin sehr wohl. Doch es gab noch zwei andere Gründe für meinen Entschluss. Erstens, meine alte Liebe zu Berlin und zweitens, mein Sohn wohnt seit 2002 in Charlottenburg.

Sie sprechen von „alter Liebe“. Wann entstand Sie?

Ich fuhr ab 1950 häufig mit meiner Mutter nach Berlin. Anfangs kamen wir sogar noch auf dem Anhalter Bahnhof an. Da meine Mutter Charlottenburg aus Vorkriegszeiten gut kannte, fuhren wir immer dorthin. Die Kant- und Wilmersdorfer Straße bis zum Zoo waren unser Lieblingsgebiet. Bei Leiser in der Kant-/Ecke Wilmersdorfer Str. kaufte ich mir 1951 Schuhe für den ersten Tanzstundenball. Diese Besuche beeindruckten mich sehr, erfreuten mich und erzeugten diese „alte Liebe“.

Was trug zu diesem Wohlgefühl im neuen Lebensumfeld bei?

In dem erwähnten Boten erfuhr ich von den Kreisen und Veranstaltungen in der Gemeinde, und ich hatte mir vorgenommen, mich sofort an einigen zu beteiligen. Das war mir wichtig, damit ich den Umzug nicht doch einmal bereuen könnte. So besuchte ich sofort den Frauenkreis, den Seniorentanz, den Bibelkreis, die Wandergruppe und seit 2010 auch das Kirchencafé donnerstags. Der Wandergruppe unterbreitete ich gern Vorschläge für Ziele, die ich selbst schon erkundet und für interessant befunden hatte. Auf mein Anraten fuhren wir z.B. deshalb auf die Insel Schwanenwerder, wanderten auf dem Gelände des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge und dem dazugehörigen Landschaftspark, lernten den Ruhwaldpark kennen und erfuhren Interessantes bei unserer Exkursion ins Hansaviertel. Ich erzähle den Wanderfreunden dabei gern die historischen Hintergründe dieser Wanderziele.

Wofür interessieren Sie sich besonders?

Ich interessiere mich für Malerei, Architektur, Literatur, Geschichte, Politik und die Bundesliga, bin aber auf allen Gebieten nur Laie. Da literarisch interessiert, bin ich Mitglied der Fontane-Gesellschaft, besuche mindestens einmal monatlich deren interessante Vorträge und beteilige mich an ein- und mehrtägigen Exkursionen. Geschichte und Politik kann man meiner Ansicht nach nicht voneinander trennen, denn die Politik von GESTERN (im weiteren Sinne) ist heute Geschichte und die Politik von HEUTE ist morgen schon Geschichte. Meine Mutter war sehr politikinteressiert, ich bin sozusagen „mit Politik“ großgeworden, das kann man nicht so abschütteln, das bleibt. Spannend finde ich immer wieder, wie unterschiedliche Gesellschaften/Systeme geschichtliche Ereignisse darstellen und bewerten.

Sie waren Unterstufenlehrerin von Beruf. Hat Ihnen die Arbeit mit Kindern Spaß gemacht?

Eigentlich nicht. Ich wollte nie Lehrerin werden, kam auf ganz besondere Weise zu diesem Beruf. Aber das ist eine andere Geschichte.

Und die wäre?

Unsere Lehrer gaben uns im 12. Schuljahr (1953) den Rat, uns für ein Pädagogik-Studium zu bewerben. Damit hätten wir die größte Chance für die Zulassung zu einem Studium, denn Lehrer wurden in den 50er-Jahren in der DDR gesucht. Ich ließ mir das natürlich auch gründlich durch den Kopf gehen, kam aber zu dem Resultat, dass ich mich für den Beruf des Lehrers nicht eigne. So entschied ich mich für ein Sprachstudium. Ich bewarb mich an fünf Universitäten, bekam aber nur Absagen. Mein Vater hatte ein Straßen- und Tiefbaugeschäft und beschäftigte 126 Arbeiter und einen Angestellten im Büro. Außerdem besaßen wir eine Landwirtschaft mit 12 Hektar Land. Das alles musste bei einer Bewerbung angegeben werden. Wir waren also nicht nur Kapitalisten, sondern auch noch Mittelbauern, zwei Gründe, mir ein Studium zu verweigern. Ich vertröstete mich auf eine Bewerbung 1954. Da ich Geld verdienen musste, arbeitete ich in dem Jahr im Hort meiner Heimatstadt. Damals waren die Horte noch für Schüler bis zur 8. Klasse zugelassen. Berufstätige Eltern schickten ihre Kinder gern dorthin, bot doch der Hortbesuch die Garantie, dass der Schüler die Hausaufgaben vollständig und fehlerfrei erledigt hatte. Und so beaufsichtigten wir Erzieher der Schüler der 6.-8. Klasse die Hausaufgaben in allen Fächern, lernten mit ihnen die Vokabeln für den Russischunterricht, lernten mit ihnen für bevorstehende Klassenarbeiten, halfen ihnen beim Schreiben von Hausaufsätzen und so weiter und so fort. Als ich 1954 wieder eine Absage von der Uni bekam, entschied ich mich, an einem gerade beginnenden dreijährigen Fernstudium teilzunehmen, durch das ich Hort- und Heimerzieherin wurde und die Lehrbefähigung für die Klassen 1 bis 4 erwarb. So wurde ich, was ich eigentlich nicht werden wollte. Ab 1959 arbeitete ich dann 12 Jahre als Unterstufenlehrerin im Kreis Weißenfels, ab 1971 in Leipzig. Das von meinem Großvater 1898 gegründete Straßen- und Tiefbaugeschäft meines Vaters wurde 1972 von der DDR enteignet.

Heute lesen Sie gern im Gottesdienst aus der Bibel vor. Welcher ist Ihr persönlicher Lieblingstext? Was sind für Sie die besonderen Herausforderungen beim Vorlesen?

Ich mag besonders die Weihnachtsgeschichte im Lukas-Evangelium Kapitel 2 mit der Geschichte von Simeon und Hanna, „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ sowie „Das Hohelied der Liebe“ im 1. Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 13, und Jesaja 58 „Falsches und echtes Fasten“. Besondere Herausforderungen beim Lesen sind für mich: nicht zu leise, deutlich, Pausen, Empathie. Man muss so lesen, dass einem jeden Zuhörer die Schönheit der deutschen Sprache bewusstwird und er sich in den Inhalt des Textes hineinversetzen, ihn mitempfinden kann.

Liebe Frau Gerlach, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Pfarrer Christoph Heil