Dr. Jamila Baluch
Liebe Jamila, Du studierst Evangelische Theologie an der Humboldt-Universität.
Welche Erfahrungen machst Du mit dem Studium?
Ich studiere Theologie in Teilzeit neben meiner Arbeit. Ursprünglich habe ich das Studium aufgenommen, um es mit dem Examen, das von der Kirche abgenommen wird, abzuschließen. Es hat sich jedoch schnell gezeigt, dass der Studiengang so kompliziert ist, dass man ihn zeitlich kaum neben der Arbeit absolvieren kann. Das zeigt sich schon an den Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, die im Grundstudium abgeschlossen werden müssen. Als ich mit Hebräisch anfing, erklärte der Professor uns, dass wir den Kurs nur bestehen würden, wenn wir täglich sechs Stunden lernen. Und so war es auch. Ich habe den Kurs nach drei Wochen mit Bedauern abgebrochen, denn neben der Arbeit bleiben mir keine 30 Stunden pro Woche, um Hebräisch zu lernen – wenn ich außerdem noch essen und schlafen möchte. Ich finde es schade, dass die Kirche auf diese Weise Menschen, die sich später im Leben für ein Theologiestudium entscheiden, fast systematisch ausschließt.
Allerdings bietet das Studium auch inhaltlich nicht das, was ich mir erhofft hatte. Mich interessiert vor allem die Frage nach dem christlichen Leben: Woran kann ich mich als Christ im täglichen Leben – auch und gerade in der modernen Welt – orientieren? Die Aufforderung „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ist ja zunächst einmal ein abstraktes Konzept. Was bedeutet das jedoch konkret im Umgang mit Freunden und Verwandten, mit Kollegen und Chefs, mit Nachbarn und Verkäufern? Und was ist mit den vielen Obdachlosen, gerade hier in Berlin, die wir jeden Tag aufs Neue ignorieren? Wie christlich verhalten wir uns da? Jesus hat gesagt, wir sollen denen geben, die uns bitten. Wenn ich mich in Berlin mit der U-Bahn bewege, kann das heißen, dass mich an einem Tag fünfmal jemand um etwas bittet. Es klingt banal, aber ich frage mich tatsächlich, was hier meine christliche Aufgabe ist.
Das Theologiestudium befasst sich jedoch nicht mit Fragen zur praktischen Umsetzung christlicher Ideen oder Ethik. Stattdessen geht es primär um eine literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Analyse der biblischen Texte. Es wird darüber spekuliert, wer wann wo welche Texte möglicherweise geschrieben hat und welche theologischen, philosophischen und anthropologischen Konzepte sich in einzelnen Schriften identifizieren lassen. Was wir aus diesen Texten für unser reales Leben ziehen können, wie sie uns vielleicht sogar zu einem besseren Leben verhelfen, wird weder gefragt noch beantwortet. Für mich ist es schwer nachvollziehbar, dass der einzige Ausbildungsweg, den Pfarrer und Pastoren in Deutschland durchlaufen können, um später ihr Amt am Menschen auszuüben, sich im Studium nicht mit Fragen des menschlichen Lebens beschäftigt.
Was fasziniert Dich am christlichen Glauben?
Das Schöne am christlichen Glauben ist, dass er den Menschen als Menschen versteht, mit all seinen Schwächen. Der Mensch ist in der Bibel genauso unvollkommen wie wir es täglich erleben. Und die menschlichen Schwächen sind seit tausenden von Jahren dieselben. Anstatt den Menschen deshalb zu verwerfen, hat Gott sich entschieden, ihn in seiner Unvollkommenheit zu akzeptieren und ihm Gnade entgegenzubringen. Unsere Aufgabe ist nun, wie Jesus an vielen Beispielen erklärt, unseren Mitmenschen dieselbe Gnade entgegenzubringen und sie in ihrer Unvollkommenheit zu akzeptieren und – mehr noch – zu lieben. Den meisten von uns fällt das schwer. Es entspricht nicht unserer Natur, denen Liebe und Gnade entgegenzubringen, die uns Unrecht tun, uns mit Hass, Verachtung oder auch Indifferenz begegnen. Es entspricht auch nicht dem menschlichen Egoismus, die eigenen Bedürfnisse für andere zurückzustellen. Daher ist die Aufforderung unseren Nächsten zu lieben, nicht die vermeintlichen Fehler der anderen zu kritisieren, sondern zuerst an unseren eigenen Schwächen zu arbeiten, eine schwierige lebenslange Aufgabe, an der wir alle täglich wachsen können.
Gibt es eine Lieblings-Bibelstelle?
Eine einzelne Lieblingsstelle habe ich nicht. Ich mag die Bergpredigt, insbesondere den Teil, in dem Jesus die alten Gesetze im Grunde noch verschärft. Hier macht er deutlich, dass viele Sünden bereits in den Gedanken beginnen, lange vor einer möglichen Verfehlung im Handeln. Deshalb fordert er uns dazu auf, nicht nur an unserem Verhalten, sondern vor allem an unserer inneren Einstellung zu arbeiten. Außerdem gibt es interessante Bibelstellen, über die nie gesprochen wird, beispielsweise Matthäus 19,12, wo Jesus sagt, dass einige Menschen von Geburt an zur Ehe unfähig sind und andere von den Menschen zur Ehe unfähig gemacht wurden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die meisten Beziehungen scheitern und viele Ehen geschieden werden.
Du hast schon einen Doktortitel. Worüber hast Du promoviert?
Ich habe in England im Fach Fernsehwissenschaften zur Darstellung von Afroamerikanern und Latinos in US-amerikanischen Fernsehserien promoviert. Kurz gesagt ging es darum, dass viele Serien zwar nach außen das präsentieren, was wir heute als „Diversity“ bezeichnen, gleichzeitig jedoch traditionelle rassistische Konzepte auf mehr oder weniger subtile Weise in der Darstellung ihrer Figuren aufrechterhalten.
Was gefällt Dir an unserer Gemeinde? Was würdest Du ändern?
Als ich das erste Mal in den Gottesdienst der Melanchthon-Kirche kam, habe ich die Ansprache der Gemeinde als menschlich und nahbar empfunden. Das gefiel mir, und ich kam wieder. Schön finde ich auch, dass beim Abendmahl der Pfarrer herumgeht, um den Wein zu reichen. Er geht damit aktiv auf jeden Einzelnen zu. In den meisten anderen Kirchen, die ich kenne, stehen die Gottesdienstbesucher Schlange, um sich das Abendmahl vom am Altar abzuholen. Die Richtung ist also umgekehrt.
Bisher habe ich noch nicht so viele Gemeindemitglieder kennengelernt, aber die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren offen und freundlich. Besonders beeindruckt hat mich die herzliche Aufnahme der geflüchteten Familie in die Gemeinde. Hier habe ich den christlichen Geist der Nächstenliebe am deutlichsten gespürt.
Ich war lange in der American Church in Berlin (ACB). Dann ging unser Pastor zurück in die USA, ich ging für einige Monate ins Ausland, und als ich zurückkam habe ich – auch aufgrund meines Theologiestudiums – gedacht, ich gebe der evangelischen Landeskirche mal eine Chance. Im Vergleich zu ACB gibt es in der Gemeinde in Kreuzberg-Mitte allerdings wenig aktives Gemeindeleben. Bei ACB gab es drei Chöre und eine Band, eine Gruppe von jungen Erwachsenen, mit der wir regelmäßig nach dem Gottesdienst zum Mittagessen gingen und gemeinsame Aktivitäten organisierten, wie Kinobesuche, Ausflüge ins Umland usw. Es gab Ladies’ Night und Men’s Night out, etwa mit einem Dinner oder Karaoke-Abend. Und jede Woche gab es andere Freiwillige, die nach dem Gottesdienst Kaffee und Kuchen bereitstellten. Insgesamt war die Gemeinde also aktiver und viele Gemeindemitglieder waren auch außerhalb des Gottesdienstes miteinander in Kontakt. Das vermisse ich hier.
Was wünschst Du Dir für die Zukunft?
Ich würde mir für die Gemeinde mehr Mitglieder aus allen Altersgruppen wünschen. Schön wäre auch, noch mehr von der Internationalität Berlins zu spüren, die unsere Hauptstadt so besonders macht. Viele der Menschen aus aller Welt, die hier leben, sind Christen. Und für diejenigen, die Deutsch sprechen, könnte die Gemeinde Kreuzberg-Mitte ein Ort sein, um gemeinsam mit anderen Neu- und Alt-Berlinern unseren Glauben zu feiern und zu leben.
Liebe Jamila, ich danke Dir für das Gespräch.
Mit Jamila Baluch sprach Pfarrer Christoph Heil.