Heilige Familie? - Warum Familien nicht perfekt sein müssen

Heilige Familie? - Warum Familien nicht perfekt sein müssen

Heilige Familie? - Warum Familien nicht perfekt sein müssen

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Heilige Familie? - Warum Familien nicht perfekt sein müssen

Alle Jahre wieder kommt‘s zum Weihnachts-Zoff: Am Heiligen Abend treffen Bedürfnisse und Erwartungen aufeinander und führen zu Enttäuschungen. Wie sehr sich auch alle zusammenreißen, das Drama zum „Fest der Liebe“ scheint schon vorprogrammiert.

Dabei hätten doch gerade Christinnen und Christen allen Grund sich zu entspannen. Erstens, weil wir gelernt haben, dass keiner perfekt ist, dass das Scheitern zum Leben gehört und wir aus der Vergebung leben (Augustinus, Martin Luther). Zweitens, weil die Bibel erzählt, dass es die perfekte Familie nie gab und auch nie geben wird. Alle Familiengeschichten sind Konfliktgeschichten. Es kommt nur darauf an, Konflikte gemeinsam gut zu managen.

Fangen wir mit der Heiligen Familie an: Als Maria, die Mutter Jesu, ihrem Verlobten sagt, dass sie schwanger ist, fühlt sich Josef sexuell betrogen und will sich heimlich aus dem Staub machen (Matthäus 1,19). Erst ein tröstender Engel versichert ihm im Traum die Treue von Maria (Matthäus 1,20-25). Von Josef hören wir nach den Kindheitsgeschichten im gesamten Neuen Testament nichts mehr.
Nur von der Mutter Jesu und von dessen mindestens sechs Geschwistern erfahren wir, dass sie zeitweise nicht begeistert waren von dem, was Jesus tat. Als sie verlangen, dass Jesus eine Predigt vor versammeltem Publikum abbricht, zeigt Jesus auf die Zuhörenden und sagt „Siehe da, das ist meine Mutter, und das sind meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ (Matthäus 12,46-50). Jesus stellt die geistliche Verbundenheit über die biologische Verwandtschaft. Trotzdem ist es am Ende Maria, die als eine der wenigen bei Jesus bleibt – unterm Kreuz. Als sie das Schrecklichste erleben muss, was Eltern erleben können – ihr Kind stirbt vor ihren Augen – da sagt der sterbende Jesus zu ihr: „Frau, siehe, das ist dein Sohn“ (Johannes 19,26) und zu seinem Jünger Johannes: „Siehe, das ist deine Mutter.“ Noch im Sterben stiftet Jesus eine neue Familie.

Die Familiengeschichte von Jesus ist nicht die einzige der Bibel, die zeigt, wie konfliktreich es unter Verwandten zugeht. Schon in der ersten Familie kommt es zum Mord: Adam und Evas Sohn Kain ermordet seinen Bruder Abel (Genesis 4). Abraham, der Stammvater von drei Weltreligionen, gibt seine Frau Sara als Schwester aus und verheiratet sie mit einem anderen (Genesis 12 und 20). Der Erbschleicher Jakob flieht vor den Racheabsichten seines Bruders Esau (Genesis 27) und wird von Onkel Laban mit der falschen Frau zwangsverheiratet (Genesis 29). Die junge Witwe Tamar verkleidet sich als Prostituierte und verführt ihren Schwiegervater Juda (Genesis 38). König David schickt Uria, den Ehemann seiner heimlichen Geliebten Batseba, an die Front, wo er umkommt (2. Samuel 11). Davids Sohn Absalom will seinen Vater vom Thron stürzen (2. Samuel 15-18). Es ist kein Zufall, dass alle diese biblischen Gestalten – bis auf Kain – ausgerechnet im Stammbaum von Jesus stehen (Matthäus 1 und Lukas 3). Konflikte gehören dazu, erst recht dort, wo Menschen aufs Engste miteinander verbunden sind. Und selbst im Scheitern geht Gott ihren Lebensweg mit, rehabilitiert und segnet sie, schenkt einen neuen Anfang. Ein Trost für alle, die sich mit Familie schwertun!

Das Familienbild der Bibel ist also sehr viel weiter und realistischer als das überhöhte und enge Familienideal aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, das heute noch das Denken vieler Menschen insbesondere in konservativen Kreisen bestimmt., Die Bibel beschreibt Großfamilien als „Patchworkfamilien“. Sie beschreibt Familie als „Haus“, als Sippe, zu der alle gehören, die zusammen arbeiten und leben, Verantwortung füreinander übernehmen, über Generationen hinweg – also nicht nur die, die durch ein staatliches Ehegesetz verbunden sind.

In der evangelischen Kirche hat sich das Familienbild in den vergangenen Jahren gewandelt. Im Jahr 2013 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre „Familien-Schrift“, die Orientierungshilfe zum Leitbild von Ehe und Familie: „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“. Darin fordert sie, alle Formen von Familie anzuerkennen und zu stärken. Worauf es ankommt: dass Menschen verbindlich, verlässlich und dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen, in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Wahrheit ist: Es gibt keine „heiligen Familien“. Wer daran festhält, macht sich etwas vor. Das Heilige an Familie ist – genauso wie bei jedem einzelnen Menschen – wenn wir anerkennen, dass Streit und Scheitern dazu gehören und ausgehalten und hoffentlich hin und wieder auch überwunden werden können. Wenn Menschen sich immer wieder darin üben, geduldig und barmherzig miteinander umzugehen. In Schönheit und in Schmerz, in Zuwendung und Zumutung von Eltern- und Geschwistersein, in Ehe und Partnerschaft.

An Weihnachten darf man sich die Frage stellen, was Paare und Familien tun können, um beziehungsfähig und resilient zu bleiben – also auch Krisen aus- und durchzustehen. Mit Enttäuschungen umzugehen. Auf die Bedürfnisse des anderen zu achten. Zu lernen, das Gegenüber mit seinen Ecken und Kanten zu lieben. Unterschiede zu als Bereicherung zu feiern und auszuhalten. Anderen verzeihen können und selbst Vergebung anzunehmen: Ein lebenslanger Prozess jeder „schrecklich netten Familie“. In diesem Sinne: Einen im evangelischen Sinne Heiligen Abend!

Christoph Heil, Pfarrer

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